Jedes Jahr am 9. November findet am Petriplatz eine Gedenkveranstaltung für die Reichspogromnacht im Jahr 1938 statt. An der Petristraße wird für jedes Opfer aus Hofgeismar eine Kerze aufgestellt.
Julia Drinnenberg hielt die Gedenkrede. Drinnenberg betonte, dass es auch im Jahr 2022 notwenig sei, an damals zu erinnern, denn die Zahl antisemitischer Straftaten steigt an. 1.555 gab es allein in diesem Jahr. Judenfeindliche Einstellungen gebe es bei rund einem Viertel der Bevölkerung. Zahlen, die aufrütteln sollten.

Drinnenberg schlug einen Bogen zu den Bürgerinnen und Bürgern von Hofgeismar, die - obwohl man seine jüdischen Nachbarn schon seit vielen Jahren kannte - nur zusahen und schwiegen, als die Ausgrenzung begann und schließlich in Gewalt endete. "Ich weiß, es ist müßig, man kann die Geschichte nicht zurückdrehen, trotzdem frage ich mich manchmal: Hätte diese Progromnacht überhaupt stattfinden können, wenn alle rechtzeitig dagegen eingeschritten wären, dass einem Teil der Bevölkerung ihre Grundrechte und ihre Würde genommen wurden?", sagte Drinnenberg.

Am Beispiel der Hofgeismarer Familie Löwy machte Drinnenberg dann das Ausmaß und die Auswirkungen der Reichspogromnacht deutlich. Johanna Löwy führte ein Geschäft in der Petristraße, das zerstört wurde. Ihr Schwiegersohn Gustav wurde auf offener Straße misshandelt. Ihr Sohn Julius, Zahnarzt in Hamburg, wurde verhaftet und ins KZ Oranienburg verschleppt. Schwester Emma und ihr Mann Josef erleben die Zerstörung ihrer Druckerei und der Wohnung. Josef wird verhaftet. Beide Eheleute sterben vier Jahre später in Treblinka. Johanna Löwy's Bruder Julius und seine Frau Frieda leben in Unna. Ihr Geschäft wird verwüstet und ausgeraubt. 1942 werden die Eheleute nach Theresienstadt deportiert. Ihrer weiteren Verschleppung nach Treblinka kommen sie zuvor und nehmen sich das Leben. Zwei weitere Brüder von Johanna Löwy sterben in Auschwitz bzw. Treblinka, dem jüngsten Bruder gelingt die Flucht ins Ausland. Johanna Löwy selbst gelingt dies nicht: sie stirbt in Theresienstadt im Alter von 76 Jahren.

"Aus der Geschichte der Novemberpogrome von 1938 lernen heißt heute: Eine Wiederholung von Gewalt gegen Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts auch hier bei uns im beschaulichen Nordhessen für möglich zu halten und diese Möglichkeit immer in die eigenen Überlegungen mit einzubeziehen", betonte Julia Drinnenberg. Ein Leben in Freiheit und Frieden sei nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme und dazu müssten alle ihren Beitrag leisten durch Aufmerksamkeit gegenüber Diskriminierung, Empflindlichkeit gegenüber Vorurteilen und Streitbarkeit, wenn nötig auch gegen den Strom allgemein vorherrschender Ansichten.

Im Anschluss an die Gedenkrede verlasen einige der Teilnehmer die Namen der Hofgeismarer Jüdinnen und Juden, die ermordet wurden. 53 Namen werden verlesen, Männer, Frauen und Kinder im Alter von 2 bis 86 Jahren. Bedauerlich war allerdings, dass eine Gedenkveranstaltung für ein solches Ereignis nur mit wenigen Besuchern stattfand. Etwa 35 Teilehmer konnten gezählt werden.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 entlud sich die von dem nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Aggression gegen jüdische Mitbürger. Begonnen hatte die Gewalt bereits einige Tage zuvor und dauert bis zum 13. November an. Die Nacht von 9. auf den 10. November gilt als schrecklicher Höhepunkt dieser Exzesse. Mehrere hundert Juden im Reichsgebiet wurden ermordet. 1.400 Synagogen und Betstuben und tausende tausende Geschäfte wurden zerstört, jüdische Friedhöfe wurden gestürmt und ebenfalls zerstört.
Die Nationalsozialisten behaupteten, der "Volkszorn" gegen die jüdischen Mitbürger hätte sich nach einem Attentat eines Juden auf einen deutschen Diplomaten in Paris entladen. Dabei hatte das Regime die Gewalt befördert, angeheizt und gutgeheißen und das Attentat als willkommenen Anlass für die Ereignisse genommen. Im Anschluss an die Ereignisse wurde die sogenannte "Judenpolitik" verschärft: Juden sollten vollkommen aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen werden. Am 10. November begannen Festnahmen von jüdischen Mitbürgern, die in "Schutzhaft" genommen wurden. 30.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt. Dadurch sollte Druck auf die Festgenommenen und ihre Angehörigen ausgeübt werden, so dass diese schneller auswandern und so ihre Vermögen "arisiert" (sprich: geraubt) werden konnten. Der zynische Begriff "Reichskristallnacht" entstand durch die Scherben zerstörter Fensterscheiben. Heute wird meistens der Begriff "Reichspogromnacht" verwendet.